Mein Tabuthema Vulvodynie: Wege aus der Scham und hin zur Heilung

“Wir sind so krank wie unsere Geheimnisse”. Die Energie, die wir aufwenden, um Geheimnisse zu bewahren, fehlt uns dort, wo wir sie eigentlich brauchen – für unser eigenes Wohl, für unsere Heilung“

Diesen Satz hatte meine Trainerin in meiner Coaching - Ausbildung einmal gesagt. Er hat mich dazu gebracht, über mein Geheimnis nachzudenken, das ich lange mit mir herumgetragen habe: meine Erkrankung Vulvodynie. 

Warum habe ich so lange geschwiegen? Warum habe ich mich geschämt, darüber zu sprechen? Und vor allem: Wie beeinflusst diese Scham meinen Umgang mit meinem Körper, meiner Sexualität und meinem Heilungsprozess?

In diesem Artikel möchte ich der Scham auf den Grund gehen, die so viele Frauen – mich eingeschlossen – davon abhält, offen über ihre weibliche Sexualität, die Vulva und damit verbundene Vulvodynie zu sprechen. Woher kommt diese Scham, und wie können wir sie überwinden? Dies ist nicht nur eine persönliche Reise, sondern auch eine Einladung, gemeinsam Tabus zu brechen und mehr Offenheit zu schaffen. 

Meine persönliche Scham: Vulvodynie und die weibliche Sexualität

Die Diagnose Vulvodynie hat mich gezwungen, mich intensiv mit meiner Vulva auseinanderzusetzen – etwas, das ich bis dato weitgehend vermieden habe. Ich habe selten über sie gesprochen, und wenn doch, dann nur verschämt. Rückblickend merke ich, dass mein Verhältnis zu meiner Vulva und meiner Sexualität schon immer von Scham geprägt war. 

SEX ist ein Thema, über das alle reden – und doch eigentlich nicht. Für mich war es immer etwas, über das man nur leise und mit vorgehaltener Hand spricht. Ich habe meine Vulvodynie zu meinem Geheimnis, weil ich mich dafür geschämt habe. Ich hatte Angst vor Ablehnung und Unverständnis. Ich habe viel Kraft aufgebracht, um dieses Geheimnis aufrechtzuerhalten. Kraft, die ich eigentlich in meine Heilung investieren hätte können. 

Warum fällt es mir so schwer, darüber zu sprechen? Warum erzähle ich meiner Familie, dass ich „Beckenschmerzen“ habe, anstatt es Vulvodynie zu nennen? Offen über solche Themen zu reden, scheint unpassend, fast unerhört. . Auch jetzt, während ich diesen Artikel schreibe, spüre ich ein großes Unbehagen. Andere Blogbeiträge gingen mir fielen mir deutlich leichter. 

Die Prägung durch Scham und das Patriarchat

Mir wird klar, dass ich mich nicht nur für meine Schmerzen, sondern auch für meine Scham schäme. Sollte ich nicht längst im Einklang mit meinem Körper und meiner Sexualität sein? Wenn ich meine Gedankengänge betrachte merke ich, dass viele meiner Werte und Überzeugungen, die durch das Patriarchat und strukturellen Sexismus geprägt sind, immer noch mein Denken beeinflussen. Ich bin nicht frei davon und es wird Zeit, sich von dieser Prägung zu lösen. Heilung bedeutet für mich auch, diese Muster zu hinterfragen, meinen Körper anzunehmen und ein liebevolles Verhältnis zu mir selbst aufzubauen. Wenn ich lerne, meine Vulva zu schätzen, werde ich es mir auch erlauben, Zeit für ihre Heilung in Anspruch zu nehmen. 

Was ist also Scham und woher kommt die Scham über unseren Körper:  

Scham ist ein komplexes Gefühl, das entsteht, wenn wir uns selbst als unzureichend oder fehlerhaft wahrnehmen und befürchten, von anderen negativ bewertet zu werden. Sie äußert sich oft in körperlichen Reaktionen, negativen Gedanken und dem Wunsch, sich zu verstecken und buchstäblich im Boden zu versinken.

Scham unterscheidet sich von Schuld, da sie sich nicht auf eine bestimmte Handlung bezieht, sondern auf das Gefühl, als ganze Person nicht gut genug zu sein.

Was ist Scham und warum betrifft sie vor allem die Vulva? 

Scham ist ein absolutes menschliches Gefühl und jeder von uns kennt es und hat sie schon mal erlebt. Allerdings frage ich mich, warum ich mich für meine Vulva schäme, wohingegen Männer sich keineswegs für die Existenz ihres Penisses schämen und vielmehr stolz mit ihm rumwedeln. Warum warum wird die Vulva und die damit verbundene Vulvodynie tabuisiert – während Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen als neutral betrachtet werden?

Die Scham, die wir in Bezug auf unsere Vulva empfinden, ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und hat historische Gründe. Hier ein kurzer Überblick:

Religiöse und moralische Vorstellungen: Historisch gesehen wurden weibliche Sexualität und Körper oft als "sündig" oder "unrein" betrachtet. Religiöse Dogmen und moralische Vorstellungen haben dazu beigetragen, dass die Vulva tabuisiert und mit Scham belegt wurde. 

Machtstrukturen und Geschlechterrollen: In patriarchalen Gesellschaften wurde  und werden Frauen oft eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Ihre Sexualität wurde als etwas Bedrohliches oder Verführung angesehen, das kontrolliert werden musste. Die Vulva wurde so zu einem Symbol weiblicher Macht, das gleichzeitig unterdrückt werden sollte.

Medizinische Fehlinformationen: Lange Zeit herrschten in der Medizin falsche Vorstellungen über den weiblichen Körper und die Sexualität. Frauen wurden oft nicht ernst genommen, wenn sie über Beschwerden im Genitalbereich sprachen.

Werbung und Medien: Auch die Werbung und die Medien haben dazu beigetragen, ein unrealistisches Bild von weiblicher Sexualität zu vermitteln. Die Vulva wurde oft sexualisiert oder versteckt, was dazu führte, dass viele Frauen sich mit ihrem eigenen Körper nicht wohlfühlten.

Eigene Muster erkennen

Rückblickend finde ich es spannend, wie Scham und die gesellschaftliche Tabuisierung der weiblichen Sexualität mein Leben beeinflusst haben – besonders im Umgang mit meiner Vulvodynie. Diese Scham zeigt sich bei mir unter anderem in der Angst, mit meiner Familie über meine Schmerzen zu sprechen. Bis heute kann ich mir nicht vorstellen, dieses Thema vor ihnen offenzulegen. Die Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung ist einfach zu groß.

Ich glaube außerdem, dass meine „religiöse Erziehung“ eine entscheidende Rolle gespielt hat. Im Katechumenen-Unterricht wurde uns vermittelt, dass eine Frau keusch, fromm und unberührt sein sollte. Diese Vorstellungen haben mich nachhaltig geprägt. Was ich jetzt schreibe, klingt vielleicht verrückt, aber im Kontext dieser Werte erscheint es fast logisch: Irgendwann kam mir der Gedanke, dass meine Schmerzen vielleicht eine göttliche Strafe für ein Leben sind, das nicht „keusch“ und „fromm“ genug war. Verrückt, welche Macht solche religiösen Wertvorstellungen haben können.

Wie mir geht es auch vielen anderen Frauen: Sie scheuen sich, offen über die Vulva oder die weibliche Sexualität zu sprechen. In vielen Teilen der Gesellschaft gilt es immer noch als unangemessen oder vulgär, diese Themen anzusprechen. Es fehlt nach wie vor an ausreichender Aufklärung über die weibliche Anatomie und Sexualität, und die bestehenden Machtstrukturen tragen zur Tabuisierung weiblicher Sexualität bei.

Mein Umgang mit Scham und Heilung

Im Laufe meiner Recherche für diesen Artikel habe ich viel darüber nachgedacht, was uns im Umgang mit Scham helfen könnte.

Die Beschäftigung mit der historischen und gesellschaftlichen Einordnung der Stigmatisierung und Tabuisierung weiblicher Sexualität hat mir dabei geholfen, meine Angst- und Schamgefühle besser zu verstehen und mich nach und nach von ihnen zu lösen. Heute weiß ich: Ich und meine Vulva sind okay – an uns ist nichts falsch. Das Bewusstmachen dieser unterschwelligen, diskriminierenden Mechanismen war ein entscheidender Schritt, um mich zu öffnen und meine Vulva anzunehmen. Mittlerweile fällt es mir leicht, mit meinen Freundinnen über meine Vulva und meine Vulvodynie zu sprechen. Sich anderen anzuvertrauen und offen zu reden, hat mir unheimlich gutgetan. Dadurch fühle ich mich kraftvoller und freier.

Zunächst habe ich mir einen absolut sicheren Raum geschaffen und nur Menschen ins Vertrauen gezogen, bei denen ich mir zu 1000 % sicher war, dass sie mich weder bewerten noch ablehnen würden. Dieser „Safe Space“ mit meinen Freundinnen war für mich unglaublich heilend. Als ich mich geöffnet habe, kamen plötzlich auch andere Themen wie Schmerzen beim Sex oder übergriffiges Verhalten zur Sprache. Meine Freundinnen teilten ihre Erfahrungen, und es entstand ein offener Austausch über Sexualität, der uns auf eine neue Ebene gebracht hat. 

Dennoch würde ich aktuell weder im Arbeitskontext noch in meiner Familie darüber sprechen – dafür bin ich noch nicht bereit. Allerdings habe ich in dieser Woche tatsächlich den Link zum Blog mit den Teilnehmer*innen in meiner Coaching - Ausbildung. Das fühlte sich erst etwas unbehaglich an, aber ich glaube es war ein transformativer Schritt hin zu freien Umgang mit dem Thema. Es ist ein Prozess. Doch jedes Mal schäme ich mich ein bisschen weniger und spüre immer deutlicher: Ich bin okay. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste.

Großen Einfluss hatten auch die Geschichten anderer Menschen in Büchern, Podcasts oder auf Instagram. Ihre Aufklärungsarbeit hat mir geholfen, meinen Scham Stück für Stück abzubauen.

Besonders inspirierend fand ich die Folge „Scham überwinden und Schamgefühle aushalten“ des Podcasts „So bin ich eben“ von Stefanie Stahl und Lukas Klaschinski. Sie geben dort wertvolle Tipps zum Umgang mit Scham. Ein Satz aus der Folge ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Indem du rausgehst und deine Story teilst, schaffst du eine unglaubliche Verbindung.“ Darin liegt für mich eine immense Power.

Fazit: Wege aus der Scham

Abschließend möchte ich sagen: Wenn du dich schämst, über deine Vulvodynie oder andere persönliche Themen zu sprechen, mach kleine Schritte. Sprich mit einer vertrauten Person, schreibe deine Gedanken auf oder suche Unterstützung in einer Community. Jede Stimme, die sich erhebt, hilft, Scham abzubauen und Verbindung zu schaffen. Je mehr wir unsere Geheimnisse aus der Verborgenheit bringen, desto mehr Chance auf Heilung haben wir. 

Wie geht ihr mit Scham und Vulvodynie um? Habt ihr Strategien gefunden, um eure Scham abzubauen? Teil eure Erfahrungen gerne in den Kommentaren - ich freue mich auf den Austausch! 

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Hilfe bei Vulvodynie: Wie du die richtige Unterstützung findest!